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So gingen Mose und Aaron zum Pharao und sprachen zu ihm: So spricht der HERR, der Gott der Hebräer: Wie lange willst du dich noch weigern, dich vor mir zu demütigen? Laß mein Volk ziehen, damit es mir dient!
2.Mose 10,3

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500 Jahre Reformation: Licht und Schatten

Wie die protestantische Botschaft die Welt veränderte und dem Geist ihrer Zeit trotzte. Eine Darlegung und ein Aufruf, erneut das Licht des Evangeliums leuchten zu lassen und dem Zeitgeist zu widerstehen. Von Armin Sierszyn

Jesus sendet Seine Jünger hinaus in alle Welt: «Geht, verkündet das Evangelium aller Kreatur! Ihr seid das Licht der Welt! Ihr seid das Salz der Erde; wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Menschen zertreten» (vgl. Mt 28,18.19; 5,13). Vermutlich erleben wir genau dies in unseren Tagen. Die ganze Welt, auch die westliche, erfährt einen tiefgreifenden Umbruch. Die alten Rezepte der intellektuellen Eliten sind verbraucht. Auch die europäische Kirche, soweit sie dem Mainstream nachläuft, wird verachtet und zertreten – nicht zuletzt von den Füssen derer, die sie in Scharen verlassen. Die protestantische Kirche, einst berufen, Salz und Licht zu sein, weiss oft selbst nicht mehr, wer sie ist und was sie soll. Sie sorgt sich vor allem ums eigene Überleben. Die Zürcher Landeskirche zum Beispiel diskutiert ein ganzes Jahrzehnt über Geld, Stellenprozente und eigene Strukturen. Um das Jahr 1500 ist die Kirche verbandelt mit Geld, Ungeist und Politik. Seit dem 13./14. Jahrhundert steigt die Katholische Kirche auf zur ersten Finanzmacht Europas (Papsttum in Avignon). Die ganze Armutsbewegung ist ein mächtiger Protest gegen diesen Irrweg. Im Jahr 1500 regiert in Rom der Renaissance-Papst Alexander VI. Mit seinen Mätressen zeugt er eine ganze Reihe unehelicher Kinder, die er mit Ländereien und Fürstentümern beschenkt. Von ihren Schäfchen verlangt die gleiche Kirche gute Moral oder wenigstens den Loskauf von Sünden- und Fegefeuer-Strafen durch kaufbaren Ablass. Für etwa einen Monatslohn kann sich jedermann von aller Sünden- und Todespein loskaufen nach dem Motto: «Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt.» Mit diesen Straf- und Bussgeldern füllt die Kirche damals scheinheilig ihre Schatullen wie heute die europäischen Regierungen mit den Milliarden aus den Verkehrsbussen.

Gegen diese heuchlerischen Missbräuche wendet sich der Augustinermönch und Doktor der Theologie Martin Luther in Wittenberg. Dieser Ort, heute eine Autostunde vor Berlin gelegen, ist damals ein 2000-Seelen-Städtchen am nordöstlichen Rand der deutschen Zivilisation. In der Bibel belesen und an Augustin geschult, bricht Martin Luther durch zu einer damals neuen und revolutionären Entdeckung: Kein Mensch kann vor Gott bestehen, geschweige denn sich freikaufen. Alle sind wir verloren, alle. Im Römerbrief von Paulus entdeckt Luther die reformatorische Botschaft, die ihn zu den Pforten des Paradieses führt: Was kein Mensch vermag – das tat der lebendige Gott: Er sandte Seinen Sohn. Jesus Christus starb am Kreuz und zahlte ein für alle Mal unsere Rechnungen – nicht mit Silber oder Gold, sondern mit dem eigenen Blut! Dies alles tat und schenkt uns Gott ohne Bedingungen – aus unergründlicher Liebe. Wer dieser Botschaft der Heiligen Schrift vertraut, ist für Zeit und Ewigkeit gerettet. Nichts kann ihn scheiden von der Liebe Gottes; der Glaube an Christus ist der feste Anker mitten im Sturm und Untergang.

Zur Reformation gehört zuerst und zuletzt die Bibel. Im Jahr 1500 lesen nicht einmal alle Priester in der Heiligen Schrift. Martin Luther übersetzt die ganze Bibel Alten und Neuen Testaments in die deutsche Sprache. Luthers Sprachgewalt und Sprachtalent sind einmalig und bis heute unerreicht. Luthers deutsche Bibel schlägt ein. Sie wird besonders von der protestantischen Elite rasch und gern gelesen. Der Reformator dolmetscht seinen lieben Deutschen Gottes Wort geradezu ins Herz hinein. So wird die Lutherbibel zur Grundlage für die neuhochdeutsche Sprache. Ohne die Lutherbibel gäbe es weder Goethe noch Schiller. Vor allem aber wird die Lutherbibel zur Mutter der evangelisch-lutherischen Kirche, denn: Allein aus dem Wort Gottes wird die christliche Gemeinde geboren. Allein aus dem Wort Gottes erwächst den Predigern Weisheit und Kraft.

Allein das Wort Gottes richtet, rettet und trägt die Welt. Das Grundprogramm aller Reformation von Wittenberg bis Genf bleibt sich immer gleich. SOLA SCRIPTURA = Allein die Schrift SOLUS CHRISTUS = Allein Christus SOLA GRATIA = Allein durch die Gnade SOLA FIDE = Allein durch den Glauben

Dabei sucht Luther in der Bibel immer die Mitte, nämlich Jesus, und zwar den Gekreuzigten. Nicht auf hohe Worte menschlicher Weisheit, auch nicht auf tiefe fromme Erlebnisse will er sich verlassen, sondern allein auf das Wort vom Kreuz (1.Kor. 1), das alles menschliche Rühmen zunichtemacht.

Weil das Wort Gottes eine so hohe und zentrale Bedeutung für das ganze Leben hat, wird die Reformation zur Mutter der Volksschule, und diese zu einem zentralen Institut in den evangelischen Städten, Ländern und Dörfern. «Läsen, Schriben, Bäten» sind die Kernkompetenzen, die die Schule auch in der protestantischen Schweiz vermitteln soll. Denn Menschen, die selber in der Bibel lesen können, werden befähigt, Gott zu begegnen und Sein Wort zu vernehmen. Wer die Bibel liest, findet Rettung, Hoffnung und geistiges Profil. So werden Bibel und Bildung zur Quelle für geistiges Humankapital in den protestantischen Ländern Europas.

Martin Luther rüttelt an einer korrumpierten Kirche und Gesellschaft unter dem Einsatz seines Lebens. Weil er die Tabus der Mächtigen berührt, droht ihm der Scheiterhaufen. Hundert Jahre zuvor, am 6. Juli 1415, bezahlte Johannes Hus auf dem Konstanzer Konzil für seinen Einsatz zugunsten einer Reform der Kirche mit dem Leben. Seine Asche wurde in den Rhein gestreut, obwohl Kaiser Sigismund ihm sicheres Geleit versprochen hatte.

Am 18. April 1521 soll Luther in Worms vor Kaiser, Fürsten und Stadträten aussagen. Vor den höchsten Instanzen des Reichs erklärt der Exkommunizierte an diesem denkwürdigen Tag: «Mein Gewissen ist gefangen in Gottes Wort, darum kann und will ich nichts widerrufen.» Luther weiss: auch in Worms könnte man (seine) Ketzerasche in den Rhein streuen. Trotzdem bleibt er fest. Dieser 18. April 1521 gilt in der europäischen Geschichte zu Recht als ein bedeutender Tag. Da steht ein einzelner Mensch vor den höchsten politischen Instanzen und beruft sich auf Gottes Wort und sein Gewissen. Natürlich hat er dies alles aus der Bibel gelernt (Röm 13,5; 1.Tim 1,19).

Für die europäische Geschichte der frühen Neuzeit ist es ein starkes Signal, dass sich ein Mensch auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit beruft. Hier stösst Luther ein Tor auf, das vom Mittelalter in die Neuzeit führt. Um Luther vor der kaiserlichen Rache nach Ablauf der zugesagten Schutzfrist zu beschirmen, entführen und verbergen ihn einige Freunde auf der tief im Thüringer Wald gelegenen Wartburg. Trotzdem flattern Luthers Schriften und Handzettel in Windeseile in aller Herren Länder.

Auch in Basel werden die Schriften des Reformators gedruckt. Die Reformation wird eine «internationale» Bewegung. Auch in Zürich fällt der Same der Reformation auf guten Boden. 1518 wird Ulrich Zwingli von Wildhaus, Pfarrer in Einsiedeln, als Leutpriester ans Grossmünster gerufen. Hier soll er den Leuten predigen. Zwingli beginnt seine Arbeit am Neujahr 1519 mit einer Auslegung des Matthäusevangeliums. Auch in der Zürcher Reformation spielt die Bibel die grundlegende und entscheidende Rolle. Zwingli und seine Freunde übersetzen die Bibel in Windeseile aus dem Hebräischen und Griechischen in die deutsche Sprache. Den Dominikanerinnen im Kloster Oetenbach ruft Zwingli zu: «Eher verlässt die Natur ihren Lauf, als dass das Wort Gottes nicht erfüllt werde!» Und in seinen Schlussreden (1523) schreibt der Reformator: «Die Heilige Schrift muss mein und aller Menschen Richter sein; es darf aber nicht der Mensch Richter über das Wort Gottes sein.»

Auch Zwingli rüttelt an Tabus der Zeit. In der Fastenzeit des Jahres 1522 ist er bei einem (öffentlich verbotenen) Wurstessen anwesend. Als der Duft der heissen Würste das Haus von Druckermeister Froschauer erfüllt und alle (ausser Zwingli) zugreifen, öffnet die illustre Runde das Fenster, damit die Stadtbewohner in den Gassen merken, was geschieht. Ein Sturm der Entrüstung erfasst die Altgläubigen, Zwingli aber predigt weiter das Wort Gottes. Die Disputationen sind eine Besonderheit der Zürcher Reformation. Als die Wogen der Emotionen hochgehen, erlässt der Rat Vernehmlassungen.

Die Zürcher Kirchgemeinden dürfen sich durch Delegationen «vernehmen lassen». Dabei bedient man sich nicht der Gelehrtensprache Latein, sondern der alemannischen Dialektsprache des Volkes. Alle Gläubigen sind mündig! Dabei geht es um die Frage: Welches ist die rechte Kirche? Bis zu 600 Männer diskutieren mit Zwingli und seinen Freunden im alten Rathaus. Als Richtschnur gilt allein die Bibel.

Humanistische Freunde von Zwingli vertreten eine radikale Form der Reformation. Mitglied der Kirche, sagen sie, könne nur sein, wer bekehrt und gläubig getauft sei. Zwingli ahnt, dass ein radikaler Weg die Zürcher Reformation in Blut und Tränen ersticken müsste; noch steht Zürich allein, die Miteidgenossen samt Bern würden die Limmatstadt mit Gewalt rekatholisieren. Aber auch theologisch denkt Zwingli anders als die Täufer. Wie Augustin unterscheidet er die sichtbare und die unsichtbare Kirche. Nicht alle Glieder der sichtbaren Kirche sind wahrhaft gläubig, und auch unter den scheinbar Frommen gibt es Heuchler. Darum ist die wahre Kirche Jesu Christi unsichtbar.

Nur Gott kennt die Seinen. Demgemäss formuliert Zwingli kurz und bündig: «Welches ist Christi Kilch? Die sin Wort hört. Wo ist die Kilch? Durch das ganze Erdrich hin. Wer ist sie? Alle Gläubigen. Wer kennt sie? Gott.» Am Hohen Donnerstag, am Karfreitag und am Ostertag 1525 wird im Zürcher Grossmünster das erste evangelische Abendmahl gefeiert. Gegenüber der katholischen Messe wird das Mahl betont schlicht und biblisch-nüchtern gefeiert. «Der Herr Jesus in der Nacht, da er verraten wurde, nahm das Brot …» (1.Kor 11,23). Die Gottesdienstteilnehmer empfangen ungesäuertes Brot (Oblaten) aus einer hölzernen Schale und Wein aus einem hölzernen Kelch.

Anders als Luther deutet Zwingli Brot und Wein symbolisch: «das bedeutet mein Leib» usw. Diese zwinglianische Deutung hat sich in verschiedenen Freikirchen, nicht aber in den reformierten Kirchen durchgesetzt. Hier gilt das Verständnis von Johannes Calvin: Leib und Blut Christi sind durch den Heiligen Geist gegenwärtig und werden geistlich mit dem Herzen empfangen. Goldene Geräte und silberne Kelche haben keinen Platz. Auch schöne Kantaten und berührende Musik stehen im Weg vor Gottes Wort, das wieder gehört werden soll. Zwingli und später auch Calvin vertreten eine puritanische Frömmigkeit. Was nicht ausdrücklich im Wort Gottes geschrieben steht, soll keinen Platz im Gottesdienst haben.

Zwingli stammt aus einer politischen Familie; sein Vater war Gemeindepräsident von Wildhaus. Zwingli ist ein politischer Reformator. Die Zürcher Reformation zielt ab auf praktische Veränderungen. Auch Luther versteht die Arbeit als Beruf (von be-rufen). Benedikt von Nursia schenkte dem Benediktinerorden schon im Frühmittelalter das Motto «Bete und arbeite». Für Zwingli ist die Arbeit nicht Last, sondern Gottesdienst und Ausdruck des Glaubens. Nicht nur die Landwirtschaft, auch Handel, Gewerbe, Handwerk, Regieren und Unterrichten werden als Arbeit positiv gewertet. Der Bettel, der zuvor das Stadtbild zeichnete, ist verboten.

Fleiss, Sparsamkeit, getreue Geschäftsführung sind Teil des Gottesdienstes. Dank des neuen Arbeitsethos blüht die Stadt auf. Im Jahrzehnt 1540/50 wächst der Stadt ein Kapital von 100.000 Pfund zu, das die Regierung für Gebietserweiterungen einsetzt. Diese neue Glaubensart bezeichnet man als Puritanismus (purus = rein), d.h. Glaube und Leben im reformierten Zürich sind «gereinigt» von unbiblischen Zutaten. Diese Tendenz wird sich im Calvinismus eher noch verstärken. Die vom Staat konfiszierten Klostergüter dienen als Grundlage zur staatlichen Fürsorge. Bei der Predigerkirche errichtet der Rat einen Mushafen zur Ernährung der Armen.

Das Mittelalter duldete die Bettelei, interpretierte sie gar positiv: im Bettler begegnet uns der arme Jesus, wir sollen ihm helfen. Zugang zum Mushafen haben jetzt nur noch unverschuldet Arme und Arbeitsunfähige, d.h. Kranke, Alte, Kinder aus Grossfamilien, aber auch Studenten. Faulpelze und Arbeitsscheue gehen leer aus. Zwingli verbietet die bisherigen Wucherzinsen (bis zu 20 %), gestattet aber als Erster Geschäftskredite bis zu 5 %. Mit Geld darf man arbeiten. Johannes Calvin gehört zur zweiten Reformatoren-Generation. Geboren 1509, ist Calvin 25 Jahre jünger als Luther und Zwingli. Calvin ist Nordfranzose, Schüler Luthers, Humanist, promovierter Jurist, meistgelesener Autor des 16. Jahrhunderts.

Calvin ist der körperlich schwächste, in seiner Wirkung aber der stärkste aller Reformatoren. 4.300 erhaltene Briefe zeugen von seiner europäischen Vernetzung. Calvin gilt als Oekumeniker unter den Reformatoren. Mit Melanchthon und katholischen Theologen sucht er ernsthaft, die Glaubensspaltung zu überwinden. Calvin gründet in Genf die Akademie. Durch diese Kaderschmiede gehen Hunderte, ja Tausende Glaubensflüchtlinge, die unter dem Schutz des starken Bern von Calvin gelehrt, geprägt und profiliert werden. Der Schotte John Knox, als Glaubensflüchtling den französischen Galeeren entronnen, empfängt in Genf seine Prägung. Er verlässt die Calvinstadt mit dem Gebet: «Herr, gib mir Schottland oder ich sterbe!» Schottland fällt ihm zu. Eine Million Franzosen, ein Grossteil des Adels und der Gebildeten, öffnet sich dem Calvinismus (Hugenotten). So entsteht ein entschlossener, kämpferischer und am Bibelwort profilierter Protestantismus in Frankreich, Holland, England, Ungarn, aber auch in der Schweiz. Genf wird das protestantische Rom genannt. Als die Kräfte des Luthertums erschlaffen und die katholische Kirche zum Gegenschlag ausholt, ist es der calvinistische Protestantismus, den Gott gebraucht, um die Reformation zu retten. Calvins Kirchenverständnis ist für seine Zeit einmalig, ja, eine Pioniertat. Der Genfer Reformator ist der Schöpfer der Gewaltentrennung. Der operativen Kirchenleitung stellt er die Synode als Legislative gegenüber.

Die Kirche Calvins kennt weder Bischöfe noch Prälaten. Sie wird geleitet durch vier Ämter, die er dem Neuen Testament entnimmt: Presbyter, Pastoren, Lehrer und Diakone leiten die Kirche. In Calvins Kirchenordnung wie in seiner Glaubenslehre (Institutio) erscheint ein prägender Satz, den man sonst im ganzen 16. Jahrhundert nicht findet: «Niemand ergreife ein Amt, er sei denn von der Gemeinde dazu erwählt.» Dieser Satz ist ein früher Same für die spätere europäische Demokratie. Mehr noch: Calvins Kirchenlehre mit ihrer Trennung der Gewalten wird durch die Vermittlung calvinistischer Siedler und durch den englischen Presbyterianer John Locke zum Vorbild für die amerikanische Verfassung im 18. Jahrhundert. Im Calvinismus schlummert die Sprengkraft, die bereits im 17. Jahrhundert in England die Revolution und die parlamentarische Demokratie heraufführt.

Die Genfer Reformation empfängt durch Johannes Calvin puritanische Akzente, wie sie uns schon bei Zwingli begegnen. Mehr noch. Das Glaubensleben des Genfer Reformators selbst ist nicht ohne asketische Züge. Der Vielbeschäftigte ist oft so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er zu essen vergisst, was seiner Gesundheit nicht zuträglich ist. Calvin kann buchstäblich mit Paulus sagen: „Ich bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht anderen predige und selbst verwerflich werde» (1.Kor 9,27). So lebt Calvin in Genf und bezwingt in grosser Schwachheit seine starken libertären Gegner in der Regierung. Wer Calvin deshalb Gesetzlichkeit vorwirft, hat ihn nicht verstanden. Dieser Reformator lehrt nicht nur, sondern er lebt auch die evangelische Kreuzestheologie. Deshalb ist ihm bei allen Fehlern, die ihm unterlaufen, eine Vollmacht und Geistesgegenwart gegeben, die ihresgleichen sucht.

Im Calvinismus des 16. und 17. Jahrhunderts verstärken sich puritanische Züge weiter, die schon bei Calvin angelegt sind. Der Calvinist distanziert sich vom Treiben dieser Welt. Tanzbelustigungen, Karneval und weltliches Spiel sind ihm ein Gräuel. Er lebt sparsam, bescheiden und solid, ist während der Woche äusserst arbeitsam und fleissig zur Ehre Gottes, er beachtet den Feiertag und sorgt für seine Familie. Es versteht sich von selbst, dass puritanische Lebensweise dieses Schlags normalerweise nicht in Liederlichkeit und Armut führt, im Gegenteil. Reichtum gilt im Calvinismus nicht als Sünde; schon Abraham war «sehr reich an Vieh, Silber und Gold» (1.Mo 13,2), weil Gott ihn segnete. Schon Zwingli und später die Calvinisten glauben, dass ehrlich erworbener Reichtum für Gläubige als ein Zeichen der persönlichen Erwählung zu verstehen ist.

Die Gewissheit der Erwählung aber ist die stärkste Motivation, die ein Mensch bekommen kann. Gnade und Erwählung sind das Geheimnis der Geschichte, sagt der Kulturphilosoph Ernst Troeltsch. Kein Geringerer als Max Weber hat schon vor 100 Jahren darauf hingewiesen, dass die puritanische Lebensweise Schmierfett für einen gedeihlichen Staat mit florierender Wirtschaft ist, ja, dass der Calvinismus mit seiner «innerweltlichen Askese» der eigentliche Motor für den Aufstieg des Westens und des Kapitalismus gewesen ist. In der Tat sind Leistung, Bildung und Wissen (Lesen!) im calvinistischen Protestantismus überaus positiv besetzt, sodass sich in protestantischen Gebieten schon früh und in besonderer Weise ein geistiges Humankapital ansammeln konnte. In Genf selbst begründen Calvinisten den Bankenplatz sowie die Uhren- und Textilindustrie, ebenso pflegen sie wachsam Beziehungen zum Rohstoffhandel.

Der Genfer Wirtschaftsprofessor Peter Tschopp bezeichnet Calvin als «Vater des Genfer Bankenplatzes». Calvin gestattet (wie Zwingli) den geschäftlichen Geldverleih zum Maximalzins von 5 %. Ums Jahr 1500 kann der monolithische Machtblock China als Nabel der Welt bezeichnet werden. Schon als Europa im Mittelalter noch dahindämmert, erfinden die Chinesen im 11. Jahrhundert die mechanische Uhr, es folgen die Druckerpresse, das Schiesspulver, das Papier, die Sämaschine, der Kompass, die Schubkarre und selbst ein kleines Gerät wie die Zahnbürste. China besitzt im Mittelalter eine hochseetüchtige Kriegsflotte, deren Riesenschiffe im 15. Jahrhundert die Ostküste Afrikas anfahren.

Ums Jahr 1500 denkt niemand an eine Weltherrschaft des kleinen Europa. Und doch steigt England im 17. Jahrhundert auf zur ersten Seemacht der Welt. Während China an seiner Selbstzufriedenheit und Unbeweglichkeit zerfällt, erlebt England eine (calvinistische) Revolution und wird 1689 zur weltweit ersten parlamentarischen Demokratie. Demokratie und Freiheit aber schaffen Raum für Eigentum, Forschung, Innovation und Wettbewerb. 2014 publizierte Niall Ferguson, weltberühmter Historiker von Harvard und Oxford, ein Buch mit dem Titel «Der Westen und der Rest der Welt». Auch Ferguson sieht in der calvinistischen Arbeitsethik den entscheidenden Nährboden und Motor für den unerwarteten demokratischen, industriellen und militärischen Aufstieg des Westens.

Die Stärke des (calvinistischen) Protestantismus hat den schnellen Aufstieg des kleinen Europa zum Vorort der Welt ermöglicht. Als England und der Kontinent im 20. Jahrhundert ihren Zenit hinter sich lassen, erreichen die protestantischen USA (dank immer neuer Erweckungen) ihre volle geistige Kraft. Erst ab den 1960er-Jahren beginnt hüben und drüben der kirchliche Abstieg; diesem Abstieg folgt der kulturelle und politische Niedergang auf dem Fuss. Dreierlei Schatten des Protestantismus sollen an dieser Stelle noch in aller Kürze dargelegt werden. 1. Mit der Reformation ist eine nachhaltige und bis heute nicht geheilte Spaltung, ja, eine Zerklüftung, in die abendländische Christenheit eingedrungen. Selbstverständlich gab es in der Christenheit längst vor der Reformation ungezählte Kirchenspaltungen.

Bereits im 11. Jahrhundert trennen sich die morgenländische und die abendländische Kirche nicht im Frieden. Die Bewegungen der englischen Wycliffiten, der tschechischen Hussiten und der Waldenser konnten im Spätmittelalter nur durch staatliche Gewalt unterdrückt werden. Die Ketzerverfolgungen sind ein jahrhundertealtes, düsteres Kapitel der Kirchengeschichte. Insofern ist die Reformation wieder positiv einzustufen, weil sie als individualisierende Glaubensbewegung eben auch eine Pluralisierung der Religionskultur ermöglichte, die der Pietismus im 18. Jahrhundert noch verstärkte. 2. Eine schwerwiegende Folge von Reformation und Gegenreformation sind die zahllosen europäischen Religionskriege, von denen der Dreissigjährige Krieg (1618–1648) mit seinem ganzen Jammer, Pest und Elend der schrecklichste ist. In ihrer grössten Not und Ausweglosigkeit stossen die Menschen auf die Gesundheit des Teufels an. Es sind nicht die Gottlosesten, sondern oft die Klugen und Wachsamen, die ob all den Schrecken, den die Glaubenskriege auslösten, an der Bibel und am Christentum irregeworden sind.

So sind die Religionskriege die tiefste Quelle für die Entstehung des abendländischen Skeptizismus und Atheismus. Mit Händen greifen lässt sich diese Entwicklung in Frankreich, das am Ende des 18. Jahrhunderts geistlich ausgeblutet ist. Auch hier kann die Schuld nicht einseitig der Reformation zugewiesen werden; im Gegenteil, es sind in erster Linie die Verhärtungen des konfessionellen Zeitalters, die hüben und drüben zu schwersten Verwerfungen geführt haben. 3. Der dritte Schatten hängt mit dem zweiten zusammen und betrifft den Neuprotestantismus ungleich stärker als die katholische Kirche.

Der neuzeitliche Mensch in Europa verfällt dem Skeptizismus. Statt an Gott glauben die Europäer mehr und mehr lieber an sich selbst. Aus dem individualisierten Glauben bei Luther entwickelt sich ein schrankenloser säkularer Individualismus, sprich Egoismus. Statt dem Bibelwort Vertrauen zu schenken, erwächst als neuprotestantisches Gewächs eine methodisierte Bibelkritik. Der europäische (protestantische) Mensch erhebt sich über Gott. Mit dem Verlust des Gottesworts sterben die europäischen Kirchen, der Neuprotestantismus verliert seine Salzkraft für die Gesellschaft. Vor allem seit den 1960er-Jahren – in Deutschland schon früher – beginnt die ganze Kraft des Westens (zunächst noch kaum spürbar) zu sinken.

Der Protestantismus ist daran, seine eigenen Erfolge zu zerstören. Sterben heute in Europa die Kirchen, so wird morgen der ganze Kontinent in den Untergang hineingezogen. Denn Europa ist durch die Bibel geworden, es könnte den Verlust dieser Botschaft auf die Dauer nicht überleben. Papst Johannes Paul II. hat schon 1990 zu einer Neuevangelisierung Europas aufgerufen. Hatte er nicht recht? Der Neuprotestantismus schüttelte darüber verständnislos den Kopf. Inzwischen hat der Zeitgeist unsere Jugend weiter nach seinem Bilde geformt, unsere Medien geleitet, zwischen Männern und Frauen einen Klassenkampf entfesselt, Millionen von Kindern die Geburt verweigert, Kindern die Mütter und Väter genommen und Heranwachsenden die Findung ihrer Identität erschwert.

Europa – einst Vorort der Welt – ist zum Spielball der Mächte geworden; es hat seine Sendung verraten, weil es (durch den Neuprotestantismus) selbst verraten wurde. Es hat sein Ohr nicht der Stimme des guten Hirten, sondern verführerischen Ideologien und abgehobenen Kulturidealen geliehen. Das ist die tiefste Schuld des Protestantismus – gegenüber Gott und gegenüber dem ganzen Kontinent. Durch die Reformation hat Gott vor allem die europäischen Völker des Nordens und des Westens, allen voran Deutschland und die Schweiz, gerufen und gesegnet.

Weshalb der Reformation im 16. Jahrhundert kein völliger Durchbruch und Aufbruch in Kirche, Kultur und Politik beschieden war, bleibt Gottes Geheimnis. Wenn evangelische Kirchen, welcher Couleur auch immer, feierlich der 500 Jahre seit der Reformation gedenken, so tun sie es mit grossem Dank; die Reformation hat uns die Helligkeit des Wortes Gottes, die Freude der Heilsgewissheit und letztlich Demokratie, Wissenschaft und Wohlstand geschenkt. Wir feiern das Jubiläum aber auch im Zeichen der Busse über Glaubensstreit und todbringende Rechthaberei auf beiden Seiten der Konfessionsgrenzen. Der Übermut des Neuprotestantismus hat nicht nur unseren Kontinent und die ganze Welt mehrfach bis an den Abgrund bedroht; er hat durch pseudowissenschaftliche Kritik an der Bibel die Kirche ihres Lichtes beraubt, das sie braucht, um zu überleben und für die Welt ein Segen zu sein.

500 Jahre Reformation sind ein Anstoss, im Raum der Kirchen und darüber hinaus die ausgetretenen Wege des Zeitgeists zu verlassen. Gott sagt Seiner Kirche zu: «Ihr seid das Licht der Welt, lasst euer Licht leuchten!» Lasst uns deshalb das Evangelium wieder neu und froh bekennen! Es ist die Kraft Gottes, die verändert – gestern und heute.

Aus: Mitternachtsruf 02/2017

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